Eingabehilfen öffnen

 Die Situation schwerhöriger Menschen  

 Das besondere Problem der Schwerhörigkeit besteht zunächst darin, daß die Hörbehinderung von „guthörenden“ Mitmenschen (Partner, Familie, Arbeitskollegen, Freunde....) als unsichtbare und nicht faßbare Einschränkung nicht nachvollzogen werden kann. Dabei ist nach wie vor verbreitet, daß allein lautes Sprechen oder Schreien dem schwerhörigen Menschen ein normales Hören und Verstehen ermöglicht, wobei genau das Gegenteil der Fall ist.

    Der schwerhörige Mensch macht täglich die Erfahrung, daß er zwar „hören“, aber durch den Ausfall wesentlicher, z.T. auch für das Sprachverständnis wichtiger Frequenzbereiche nicht „verstehen“ kann. Dieses Problem kann auch durch die besten Hörgeräte nicht gänzlich gelöst werden und schon gar nicht stimmt das oftmals in der Werbung verheißene „Sie hören wieder wie früher“. Dieses Mißverständnis führt häufig zu großer Unsicherheit und vielen Konflikten im Umgang zwischen Hörbehinderten und „Hörenden“ in allen Lebensbereichen. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die von „Hörenden“ wiederholte Aussage, „er hört eben nur das, was er will“.

   Es ist heute wissenschaftlich unbestritten, daß eine höhergradige Schwerhörigkeit eine Reihe von körperlichen, seelischen und sozialen Folgen mit sich bringen kann:

 -         Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Ängste, Verunsicherung, Depressionen, Schwindel-Symptomatik, orthopädische Probleme besonders im Halswirbelbereich, Kopfschmerzen und psychovegitative Erschöpfung

 -         Leistungsminderung durch schwankendes Selbstwertgefühl, Traurigkeit über Einschränkungen, Gefühl der Isolation in der „hörenden“ Welt, ständige Überforderung resultierend aus der Orientierung an „Hörenden“, Angst vor weiterem Hör- und Sprachverlust

 -         Diskriminierung, die sich in folgenden Aussagen zeigt: „Der hört aber schlecht“, „Der hört ja viel besser, wie er vorgibt“, „Bist du aber schwer von Begriff, mit dem Hörgerät hört man doch wieder ganz normal“

 -         Minderung der Schwerhörigkeit führt häufig zu sozialer Isolation und Beeinträchtigung der Lebensqualität, Kontaktschwierigkeiten, ständiges Kämpfen um Akzeptanz als Mitmensch und Gesprächspartner, Einschränkungen bei der Berufswahl, Ausschluß von Weiterbildung und Kultur, ohne Hörgeräte keine Verständigung – zugleich ist ein Hörgerät noch vielfach eine soziale Brandmarkung

 -         Kommunikationsprobleme führen häufig zum sozialen Rückzug und zur Vereinsamung, Schwerhörigkeit ist die „Fähigkeit nicht zu verstehen, was andere verstehen“, Verunsicherung durch die Ungewißheit, ob man richtig verstanden hat und ob man selbst richtig verstanden wurde (im persönlichen Umgang und vor allem bei Ämtern und Behörden), starke Anstrengung durch die Notwendigkeit des ständigen „Lippenabsehens“

     Alle Maßnahmen für schwerhörige Menschen, sowohl im öffentlich als auch im privaten Bereich, setzen zuerst das Bewußtsein voraus, daß Hören einen Großteil unserer Kommunikation bedeutet und damit eine eminent lebenswichtige Funktion ist.

     Der berühmte französische Arzt Dr.Alfred Tomatis schreibt in seinem Buch „Das Ohr und das Leben“ folgenden Satz: „Ohne Übertreibung darf man sagen, jede Disharmonie beim Hören zieht eine Disharmonie in den menschlichen Beziehungen nach sich, die sich gegen den Mitmenschen oder gegen sich selbst wenden kann“

    Und beim Philosophen Emmanuel Kant lesen wir: Nicht sehen können heißt, die Menschen von den Dingen trennen, nicht hören können heißt, die Menschen von den Menschen trennen.

Es wird von den betroffenen Menschen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass das bloße Angebot technischer Einrichtungen allein nicht ausreicht, sofern dahinter nicht ein menschliches Verständnis  erkennbar wird, den schwerhörigen Menschen mit seinen Kommunikationsproblemen ernst zu nehmen. Jedes Leben, jede Entwicklung des Lebens und jedes funktionierende Gemeinwesen beruht auf Kommunikation und Begegnung, diese Kommunikation umfassend zu fördern stellt keinen Gnadenakt irgendwelcher politischer und öffentlicher Einrichtung dar, sondern ist die  Grundvoraussetzung für den Vollzug einer Gemeinschaft und für die Gleichbehandlung aller Menschen.

     Das Bedürfnis nach einer möglichst konfliktfreien und gelingenden Kommunikation gehört zum Grundrecht eines Menschen.

Hans Neuhold
Aus der Erhebung für Graz, Broschüre „Graz unerhört“
November 1999