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Vordenken-Nachdenken

 

 

 

Werde, der du bist

 

 

 

Eine Aufforderung, die in vielen philosophischen Betrachtungen nachzulesen ist. Ich persönlich möchte nun nicht mit der Philosophie konkurrieren, sondern meinen eigenen Gedanken zu dieser Aussage freien Lauf lassen:

 

Es scheint ja fast absurd zu sein, etwas zu werden, was man schon ist. Aber: Wissen wir wirklich, wer wir sind? Wissen wir wirklich, wohin wir wollen?

 

Am Tempel des Apoll in Delphi (der berühmten Orakelstätte) war ein sehr kurzer und markanter Spruch zu lesen: „Erkenne dich selbst". Denn die folgenden Weissagungen konnten eben nur auf dieser Grundlage verstanden werden. Und nur diese Selbsterkenntnis kann für uns ein ständiger Neubeginn sein, eine Grundlage für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt, über das Menschsein und die Beziehung zu anderen Menschen.

 

Etwas zu sein wird leicht verwechselt mit dem Schein, mit dem wir andere gerne blenden möchten. Zu gerne möchten wir mehr scheinen, als wir wirklich sind. Dieser Hang zum Schein verwischt leicht die dahinter stehende Wirklichkeit unseres wahren Denkens und Lebens. Wer kennt uns schon wirklich, wer wir sind, wenn wir nicht einmal selbst diese Erkenntnis über uns schaffen.

 

Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken und nachzuspüren, was mein eigens Wesen im innersten Kern ausmacht, über meine Gefühle und Grundsätze, über meine Lebensweise und über mein Verhalten anderen gegenüber. Das eigene Ich, meine Persönlichkeit ist ja einem ständigen Wandel unterworfen, aber letztlich kann ich von meinen Mitmenschen nur so „wahr“ genommen werden, wie ich wirklich bin – jeder Schein nach außen hin zerbricht letztlich an der Wirklichkeit, dem wahren Wesen meiner Person. Und dieses Wesen bedarf einer ständigen Entwicklung – eben das Werden, weil wir nie fertig sein dürfen und können.

 

Der Philosoph Martin Buber sagt es einfach: „Der Mensch wird am Du zum Ich“. Das heißt, dass nicht allein die Selbstbesinnung unser eigenes Wesen prägt, sondern vor allem die Beziehung und die Begegnung mit andern Menschen. Mensch zu sein und es immer mehr zu werden passiert somit durch die Kommunikation, im miteinander leben, um sich im anderen Menschen zu erkennen.

 

Jedes DU, dem ich ehrlich und ohne Vorbehalte gegenüber trete, ist demnach wie ein Spiegel, in dem ich mein eigenes Wesen entdecken kann bzw. könnte. Miteinander zu sein ist das wirkliche Sein. Das verlangt aber Offenheit und grundsätzliches Vertrauen – vielleicht schwer in einer Welt, in der Misstrauen, Neid und Ausgrenzung an der Tagesordnung ist.

 

Alle unsere Erfahrungen, Gespräche, Nachdenken und Studieren tragen in Summe dazu bei, zu erkennen, was schon vorhanden ist. Der Platz, den wir in der Welt zugewiesen bekommen haben (vieles wird ja nicht von uns selbst bestimmt), müssen wir einmal grundsätzlich annehmen und akzeptieren, bevor wir überhaupt weiterdenken können.

 

Und dieses Weiterdenken heißt, der zu werden, der man ist. Das Akzeptieren seiner Situation (mit allen Mängeln, Beeinträchtigungen und empfundenen Nachteilen), das immer wieder neue Erkennen des eigenen Wesens im andern Menschen, das ehrliche Wahrnehmen seiner Sehnsüchte und Ängste bedeutet letztlich, das zu werden, was man ist.

 

Das ist ein ständiger Prozess, aber es bedeutet das wirkliche erfüllte Leben,

 

das ich Ihnen allen wünsche

 

Ihr Hans Neuhold